BAC Bischöfliches Archiv Chur
© BISCHÖFLICHES ARCHIV CHUR / SCHWEIZ – Hof 19 – 7000 Chur
Siegel - in künstlerischer Ausgestaltung ein Abbild für die Entwicklungen in der Kulturgeschichte
Das Beglaubigungsmittel Siegel
1. Begriff
Das
Siegel,
das
im
abendländischen
Mittelalter
und
darüber
hinaus
bis
Anfang
des
19.
Jahrhunderts
künstlerisch
beachtenswerte
Ausgestaltung
erfahren
hat,
ist
nicht
zuletzt
ein
Abbild
für
die
Entwicklungen
in
der
Kulturgeschichte.
Über
die
erste
Hochkultur
auf
europäischem
Boden,
die
minoisch-
mykenische
Kultur
(ca.
2600–1450
v.
Chr.),
von
der
zum
Teil
höchst
qualitätsvolle
Siegelstempel
aus
Gold,
Achat,
Karneol
und
Elfenbein
erhalten
sind,
verbreitete
sich
das
Siegelwesen
in
der
griechisch-römischen
Welt.
In
der
klassischen
Antike
wurden
Siegel
als
Verschlussmittel,
Erkennungszeichen
und
Beglaubigungsmittel
verwendet.
Die
Germanen
haben
von
den
Römern
mit
der
Sache
auch
das
Wort
„sigillum“
übernommen.
Die
Siegelführung
nördlich
der
Alpen
beschränkte
sich
aufgrund
der
eher
geringen
Verbreitung
der
Schriftlichkeit
zunächst
auf
Könige/Kaiser
und
Bischöfe.
Für
die
reichhaltige
Entwicklung
des
Siegelwesens
im
Mittelalter
war
entscheidend,
dass
sowohl
die
byzantinischen
bzw.
oströmischen
Kaiser
als
auch
die
Päpste
ihre
Urkunden
be-
oder
untersiegelten
und
so
zum
Vorbild
der
besiegelten
Urkunden
(Diplome)
der
karolingischen
und
fränkischen
Herrscher
in
Europa
wurden.
Seit
dem
10.
Jahrhundert
entwickelte
sich
die
Verwendung
des
Siegels
zur
Beglaubigung
des
niedergeschriebenen
Inhalts
auf
der
pergamentenen
Urkunde.
Papst
Alexander
III.
(1159–1181),
früher
Lehrer
des
kanonischen
Rechts,
verlangte
per
Dekret
für
die
Beweiskraft
einer
Urkunde
die
„manus
publica“,
also
die
notarielle
Fertigung,
oder
das
„sigillum
authenticum“.
Der
Gebrauch
des
(bischöflichen)
Siegels
erfährt
entsprechend
von
Seiten
des
kanonischen
Rechts
eine
starke
Aufwertung
und
die
Herausstellung
der
Authentizität.
Die
Siegelurkunde
als
Ganzes
mutiert
so
im
12./13.
Jahrhundert
zur
reinen
Beweisurkunde
für
ein
vollzogenes
Rechtsgeschäft;
die
Besiegelung
stellt
quasi
den
letzten
Akt
des
Beurkundungsvorganges
dar.
2. „Chur-bischöfliche“ Ausgestaltung der Siegel
Das
erste
auf
dem
Territorium
Churrätiens
erhaltene
Siegel
ist
bezeichnenderweise
ein
(durchgedrücktes)
Bischofssiegel;
es
ist
nach
1070
zu
datieren
und
ziert
ein
Dokument
des
Churer
Bischofs
Heinrich
I.
von
Montfort
(bez.
1070–1078).
Diesem
Bischofssiegel
folgen
später
diejenigen
der
anderen
geistlichen
Institutionen,
namentlich
des
Churer
Domkapitels,
der
Klöster
und
seit
dem
13.
Jahrhunderts
immer
öfters
der
weltlichen
Obrigkeiten,
der
Städte,
Korporationen
wie
Universitäten,
Gerichte
und
Zünfte,
zuletzt
auch
der
einfachen
Bevölkerung
(Pfarrer,
Bürger,
Bauern).
Die
Siegel
wurden
zuerst
an
(gedrehten/geflochtenen)
Seiden-
oder
Hanfschnüren
befestigt,
später
folgte
die
durchgängige
Befestigung
an
abhangenen oder eingehängten Pergamentstreifen.
Diverse Formen der Siegelbefestigung an der Pergamenturkunde
Das
persönliche
Siegel
wurde
nur
in
der
Amtszeit
des
jeweilig
amtierenden
Bischofs
verwendet,
danach
vernichtet;
das
sog.
Korporationssiegel
(z.
B.
des
Domkapitels)
wurde
hingegen
permanent
verwendet.
Das
Bischofssiegel
stellt
grundsätzlich
ein
ausgesprochenes
Standessiegel
dar,
dessen
Merkmale
sich
deutlich
in
Grösse,
Umschrift
und
Bild
äussern.
Ferner
unterscheidet
man
Bischofssiegel
für
lediglich
–
vom
Churer
Domkapitel
–
erwählte
(electi)
und
für
geweihte
bzw.
vom
Papst
bestätigte
und
ordinierte
Bischöfe,
was
auf
den
folgenden
Seiten
mehrfach
in
der
Umschrift des entsprechenden Siegels zum Ausdruck kommt.
Beim
persönlichen
Siegel
des
jeweils
amtierenden
Churer
Bischofs
variiert
die
Prägung
des
Siegels
im
14./15.
Jahrhundert
zum
Teil
stark.
So
finden
sich
innerhalb
ein
und
derselben
Regierungszeit
nacheinander
oder
gleichzeitig
mehrere
Siegel.
Im
15.
Jahrhundert
tritt
neben
den
bischöflichen
Hauptsiegeln
das
„Secretum“
in
Gebrauch
–
ein
meist
kleineres,
stets
rundes
und
für
nicht
feierliche
Handlungen
oder
beglaubigte Abschriften bischöflicher Urkunden verwendetes Siegel.
Beim
Material
der
bischöflichen
Siegel
wurde
zuerst
lediglich
braunes
Wachs
verwendet.
Unter
Friedrich
II.
von
Erdingen
(1368–1376;
Bischof
von
Brixen
1376–1396)
kam
die
Färbung
–
mit
roter
Farbe
–
des
Stempelbildes
in
Mode
und
setzte
sich
bleibend
durch.
Die
Siegelschüssel
hingegen
blieb
ungefärbt
bzw.
wurde
ab
der
zweiten
Hälfte
des
16.
Jahrhunderts
durch
vorgefertigte
(gedrechselte)
runde
Holzfassungen
mit
passendem
Stülpdeckel
ersetzt,
was
nicht
zuletzt
dem
Schutz
des
Siegels
diente.
Die
Bestempelung
der
Siegel
geschah
in
der
bischöflichen
Kanzlei
am
Hof
in
Chur
oder
auf
der
Fürstenburg
im
Vinschgau
und
–
mit
ganz
wenigen
Ausnahmen
–
nur
vorderseitig.
Als
Formen
finden
sich
runde
und
spitzovale
Siegel.
Die
Umschrift
der
eigentlichen
Bischofssiegel
ist
konstant
und
macht
bis
in
die
Mitte
des
17.
Jahrhunderts
kaum
nennenswerte
Wandlungen
durch:
Sie
beginnt
in
der
Regel
mit
der
monogrammatischen
Invokation,
dem
Kreuz,
darauf
folgen
Buchstabe
„S“
[für
„sigillum“],
Name
und
Würde
des
Trägers
mit
der
Devotionsformel
„dei
gratia“
[anfänglich
mit
‚c‘
geschrieben]
–
gewählt
wird
entweder
der
Nominativ
oder
der
Genitiv.
Erst
seit
Bischof
Johann
VI.
Flugi
von
Aspermont
(1636–1661),
welcher
sich
nach
längerem
Unterbruch
wieder
am
Reichstag
vertreten
liess,
werden
Herrschaftstitel
(Herr
zu
Grossengstingen
in
Schwaben,
Fürstenburg
im
Vinschgau
und
Fürstenau
im
Domleschg)
und
seit
Ende
des
17.
Jahrhunderts
auch
die
Stellung
des
Churer
Oberhirten
als
geistlicher
Reichsfürst
mittels
Kürzel
„SRIP“
[=
Sacri
Romani
Imperii
Principe]
in
die
Umschrift
eingearbeitet
–
dies
bis
zum
Untergang
des
Heiligen
Römischen
Reichs Deutscher Nation 1806.
Das
Siegelbild
selbst
entwickelte
sich
aus
dem
die
Amtswürde
symbolisierenden
Bischofsbild
(sog.
„Portraitsiegel“)
–
Bischof
in
Pontifikalgewand
sowie
mit
Mitra,
in
der
einen
Hand
den
Bischofsstab,
in
der
anderen
Hand
ein
Evangeliar
haltend,
oder
diese
Hand
ist
zum
Segen
erhoben.
Das
Bild
verdeutlicht
den
Verkündigungs-
und
Leitungsdienst
als
Hirte.
Vereinzelt
findet
sich
auch
die
Darstellung
eines
einfachen
Klerikers
mit
Evangeliar
(Dienst
der
Verkündigung).
Eine
solche
Bildauswahl
mit
der
entsprechenden
Umschrift
hatte
juristische
Bedeutung:
der
Bischof
war
„nur“
Elekt
–
ein
erwählter,
aber
nicht
geweihter
Ordinarius.
Im
14.
Jahrhundert
beginnt
eine
für
das
Spätmittelalter
charakteristische
reichere
Bildausgestaltung:
Baldachin
und
heraldische
Zutaten.
In
zwei
Fällen
kommen
die
Patrone
des
Bistums
Chur,
die
Heiligen
Luzius
und
Florinus,
zur
Darstellung.
Nach
Mitte
des
14.
Jahrhunderts
bis
hin
zu
Beat
à
Porta
(1565–1581)
übernimmt
den
Platz
für
den
Bischof
die
thronende
(wie
gekrönte)
Gottesmutter
Maria,
auf
ihrem
Schoss
das
Jesuskind,
darunter
die
Wappenschilde
des
Bistums
und
der
Familie,
aus
welcher
der
Bischof
stammte.
Mit
der
Verwendung
des
Wappens
des
Gotteshauses
allein
oder
in
Verbindung
mit
dem
Hauswappen
des
Bischofs
geschieht
wiederum
ein
juristisch
wichtiger
Hinweis
auf
den
Genuss
der
Temporalien,
der
weltlichen
Herrschaftsrechte,
durch
den
signierenden
Oberhirten
als
legitimer geistlicher Reichsfürst.
Bezeichnend
für
die
spätere
und
dann
durchgehende
Verwendung
bzw.
zum
Churer
Bistumswappen
mutierende
Darstellung
ist
die
Abbildung
des
Gotteshaus-Wappens
mit
dem
(nach
links)
springenden
aufrechten
Steinbock.
Dieses
Bild
wird
in
den
überkommenen
Urkunden
aus
dem
Bischöflichen
Archiv
Chur
erstmals
unter
Johannes
I.
Pfefferhard
(1325–1331) verwendet.
Churer Stadtwappen mit leerem Torbogen (Urkunde von 1282) [links]
Churer Stadtwappen mit Steinbock im Torbogen (Urkunde von 1332) [Mitte]
Churer Bistumswappen im Siegel von Bischof Friedrich II. von Erdingen
(Urkunde von 1375) [rechts]
Die
Verwendung
des
Steinbockes
bei
den
Bischöfen
von
Chur
ist
erstmalig
im
Rücksiegel
an
einer
in
Chur
ausgestellten
Urkunde
vom
4.
September
1291
zu
finden.
Der
Churer
Bischof
Berthold
II.
von
Heiligenberg
(1290–1298)
sicherte
damals
den
Bürgern
von
Zürich
für
ihren
Warentransport
Geleit
und
Schutz
in
seinem
Gebiet
zu
[Original
in:
StAZH,
C
IV
8
Chur
/
edierter
Text
in:
BUB
III
(neu),
Chur
1997,
Nr.
1527;
vgl.
Abb.
des
Rücksiegels
ebd.
S.
509].
Ein
weiteres
solches
Rücksiegel
mit
Steinbock
findet
sich
unter
Bischof
Siegfried
von
Gelnhausen
(1298–1321)
an
der
am
8.
Oktober
1300
in
Meran
ausgestellten
Urkunde,
worin
Bischof
Siegfried
den
Besuchern
der
Marienkapelle
in
Matrei
am
Brenner
Ablass
erteilt
[Original
in:
PfrA
Matrei/A;
edierter
Text
in:
BUB
III
(neu),
Nr.
1697;
vgl.
Abb.
des
Rücksiegels
ebd.
S.
513].
Vor
Berthold
II.
scheint
der
Steinbock
als
Wappentier
keine
Verwendung
gefunden
zu
haben.
Dafür
spricht
auch
das
älteste
noch
erhaltene,
zwar
beschädigte
Churer
Stadtsiegel
an
der
im
Bischöflichen
Archiv
Chur
aufbewahrten
Urkunde
vom
30.
Juni
1282
[BAC,
012.0109
/
edierter
Text
in:
BUB
III
(neu),
Chur
1997,
Nr.
1313]:
Das
dreitürmige
Stadttor
ist
leer.
Erst
das
nachträglich
an
der
ebenfalls
im
Bischöflichen
Archiv
zu
findenden
Urkunde
vom
23.
April
1332
(ausgestellt
in
Feldkirch)
angehängte
Siegel
zeigt
im
Churer
Stadttor
den
springenden
Steinbock
[BAC
013.0246;
edierter
Text
in:
BUB
V,
Chur
2005,
Nr.
2496].
Da
der
Churer
Bischof
Haupt
der
Gotteshausleute
und
Herr
über
die
Stadt
Chur
war,
ist
anzunehmen,
dass
der
nach
links
springende
aufrechte
Steinbock
als
Wappentier
Ende
des
13.
/
Anfang
des
14.
Jahrhunderts
ins
Churer
Bistums-
und
ins Churer Stadtwappen gefunden hat.
Bereits
im
Laufe
der
zweiten
Hälfte
des
15.
Jahrhunderts
bis
hinein
ins
Zeitalter
der
Reformation
weisen
die
Pergamenturkunden,
welche
im
Bischöflichen
Archiv
Chur
aufbewahrt
werden,
enorm
starke
Schäden
auf;
an
vielen
von
ihnen
fehlen
die
Siegel
oder
sind
bis
zu
fragmentarischen
Überresten zerbrochen.
Auch
wenn
aus
diesem
Zeitfenster
sich
nur
wenige
für
eine
Publikation
mit
Aussagekraft
eignen,
kann
die
Zusammenstellung
der
Siegelabbildungen
der
Churer
(Fürst-)Bischöfe
in
der
Frühen
Neuzeit
bis
zu
Beginn
des
19.
Jahrhunderts
lückenlos
fortgeführt
werden
und
verdeutlicht
so
aussage-
kräftig
die
wechselvolle
Geschichte
der
Siegel
der
Bischöfe
von
Chur
als
Bedeutungsträger
in
Region
und
Reich
(Krummstab
–
Mitra/Bischofshut
–
Reichsschwert),
als
Kleinkunstwerk
aus
Bienenwachs
und
als
nicht
zu
unterschätzende Geschichtsquelle.
Das deutsche Wort „Siegel“ ist abgeleitet vom Lateinischen „sigillum“,
einer Verkleinerungsform von „signum“. Beide lateinischen Worte stehen
im weitesten Sinne für „Zeichen“. Toni Diederich plädiert den Begriff
„Siegel“ zu definieren als «einen Abdruck, der mittels eines individuell
gestalteten Stempels hergestellt wird und als rechtserhebliches Zeichen
des Siegelführers für die Echtheit, Unversehrtheit oder Gültigkeit eines
Sachverhaltes oder einer Willensbekundung eintreten soll».
[Toni Diederich, Siegel und andere Beglaubigungsmittel, in: Friedrich Beck / Eckart Henning
(Hrsg.), Die archivalischen Quellen, Köln 2003, S. 291 f.]
Das Bischöfliche Archiv im
Marsoelturm im Jahr 1877 – nach
der Beschreibung des ersten
Archivars Christian Modest Tuor
(1877–1893):
«In dem ohnehin sehr unpractisch
eingerichteten Lokal lagen die
Urkunden und Schriftstücke bunt
durcheinander, theils in morschen
Truhen, theils in Salzfässern, theils
auf Tischen aufgehäuft. Mäuse und
Ratten hatten darin ihre Nester
und trieben daselbst ihr Unwesen.
Kein wachendes Auge eines
Archivars war für die Erhaltung
und Ordnung des wertvollen
Archiv- Materials besorgt, keine
Regesten fanden sich vor.
Jedermann hatte ohne Controlle
freien Zutritt zum Archive und
konnte darin nach Belieben
schalten und walten. Kein Wunder,
wenn unter solchen Umständen
manches der Zerstörung
anheimfiel, manches in fremden
Besitz gelangte.»